2008

Impulsreferat zum Aktionstag anlässlich des
„Europäischen Protesttags zur Gleichstellung
behinderter Menschen“ am 05. Mai 2008









Vortrag:
Andrea Peisker, Stellvertretende Vorsitzende des ABB e.V.

Als Gastgeber fällt dem Allgemeinen Behindertenverband Land Brandenburg auch in diesem Jahr das Privileg zu, die Diskussion durch einige einstimmende Worte anzustoßen. Und da es ein Europäischer Protesttag ist, der uns heute hier zusammengeführt hat, liegt es in der Natur der Sache, dass wir in erster Linie die Dinge zu Sprache bringen wollen, die uns ärgern und empören.

Napoleon der 1. hat einmal gesagt:
„Fürchte nicht die, die nicht mit Dir übereinstimmen,
sondern die, die nicht mit dir übereinstimmen und
zu feige sind, es Dir zu sagen.“

In dieser Hinsicht hat auch das zurückliegende Jahr einiges zu bieten.

Der „Europäische Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen“ im Jahre 2008 ist der fünfte nach Verabschiedung des Brandenburgischen Behindertengleichstellungsgesetzes. Eine regelmäßige Information zum Stand der Gleichstellung und zur Lebenssituation behinderter Menschen im Land Brandenburg hielt in den zurückliegenden 5 Jahren weder die Landesregierung noch der Landtag für erforderlich. Wenn behindertenpolitische Themen im Parlament behandelt wurden, dann fast ausschließlich im Zusammenhang mit Kleinen und Großen Anfragen der Oppositionsparteien.

Das Gesetz sieht beispielsweise ein Verbandsklagerecht vor, das aber in der Praxis leider nur gegen sehr wenige Landesbehörden geltend gemacht werden kann und sich nicht auf die Entscheidungsebene der Landkreise und kreisfreien Städte richtet.

So ist es den Behindertenverbänden unmöglich, eine Verbandsklage gegen Bauämter zu erheben, die rechtswidrige Baugenehmigungen zur Errichtung nicht barrierefrei zugänglicher öffentlicher Gebäude erteilen oder Entscheidungen der Ämter für Denkmalschutz anzufechten, wenn viele der in den letzten Jahren aufwendig sanierten historischen Innenstädte von ihren mobilitätsbehinderten Bürgerinnen und Bürgern nicht ohne Gefahr für die eigenen körperliche Unversehrtheit benutzt werden können.

Das ist übertrieben denken Sie jetzt?! Wir meinen nicht und bringen im Zuge der Betonkopfverleihung am heutigen Tag dafür auch Beispiele.

Überhaupt spüren wir eine zunehmende Zurückhaltung der Landes- im Verhältnis zur Kommunalpolitik. In den letzten Jahren wurde diese Ebene immer deutlicher ausgespart, wenn es darum ging, die rechtliche Position behinderter Menschen im Land Brandenburg zu verbessern. Stattdessen splittet sich Brandenburg auf in kleine „Fürstentümer“ in Gestalt von Landkreisen, die unter dem Argument der kommunalen Selbstverwaltung unterschiedlichste Regelungen verabschieden, so dass die Lebensqualität ihrer Untertanen mit Behinderungen von der Adresse laut Melderegister abhängig wird.

Wo bleibt die Umsetzung von Artikel 12 der Verfassung des Landes Brandenburg, die das Land und die Gemeinden verpflichtet, für die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen? Aus unserer Sicht ist es dabei nicht entscheidend, in den Städten die sog. „Erklärung von Barcelona“ Handlungsgrundlage kommunaler Behindertenpolitik werden zu lassen,

ob man sich zur „Barrierefreien Stadt“ verpflichtet hat oder in den Kommunen „Lokale Teilhabepläne“ zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden. Wichtig ist für uns, dass das Land die Ebene der Behindertenpolitik nicht einfach aufgibt und vor dem Widerstand der kommunalen Interessenvertretungen kapituliert und ihnen völlige Gestaltungsfreiheit lässt. Wie sich das praktisch für die Betroffenen auswirkt, dafür haben wir auch in diesem Jahr wieder einige Beispiele zusammengestellt.

Als zum 01.01.2007 das Gesetz über den öffentlichen Personennahverkehr im Land Brandenburg geändert wurde, nutzte man seitens der Landesregierung die Gelegenheit, die bisher zwingend notwendige Berücksichtigung der Belange behinderter Menschen bei der Aufstellung des Landesnahverkehrsplanes aufzuweichen.

Jetzt „sollen“ die Belange behinderter Menschen berücksichtigt werden und Sie alle wissen: Juristisch liegen zwischen beiden Formulierungen Welten.

Selbst wenn der Landesnahverkehrsplan auch Ausführungen enthalten sollte, wie man Barrierefreiheit in der Zukunft herstellen will, gibt es (nach dem Prinzip der vorhin beschriebenen Fürstentümer) in den Landkreisen unter dem Argument der „kommunalen Selbstverwaltung“ dann in unterschiedlichster Ausrichtung verabschiedete Nahverkehrspläne. Und da kommt es dann zu solchen Blüten, dass Haltestellenansagen „im Stadt- und Regionalverkehr … bei Bedarf anzukündigen“ sind. Bedarf besteht nach Auffassung dieses Aufgabenträgers insbesondere dann, „wenn der Fahrtenverlauf …von der üblichen Linienführung abweicht oder die Ansage für …ortsfremde Fahrgäste oder Menschen mit Funktionseinschränkungen eine wichtige Orientierungshilfe bildet.“ Man könnte zynisch sagen: Hauptsache der Busfahrer weiß, wo es lang geht und vor allem, wo er gerade ist. Schließlich sitzt er von allen Mitfahrern die längste Zeit im Bus.

Öffentlicher Personennahverkehr ist im Flächenland Brandenburg nicht nur wichtiger Aspekt der Daseinsvorsorge, er ist vor allem auch eine Dienstleistung, die nur deswegen existiert, weil es eine kundenorientierte Nachfrage nach ihr gibt. Wie weit ist es aber mit dem Kundenverständnis der Dienstleister, wenn erwartet wird, dass man einen Informations- bzw. Unterstützungsbedarf bitteschön erst anzeigen muss? Diejenigen unter Ihnen, die den ÖPNV von größeren Städten kennen und Ansagen bzw. Anzeigen an Haltestellen und in den Verkehrsmitteln als die normalste Sache der Welt empfinden, werden vielleicht erstaunt sein. Aber im Land Brandenburg gibt es Landkreise, die sind so groß wie anderswo ganze Bundesländer, und trotzdem bekommen sie dort in den Bussen nicht angesagt oder angezeigt, wo sie gerade sind oder wie die nächste Haltestelle heißt! Wer das wissen möchte, hat sich vor Antritt der Fahrt beim Busfahrer bemerkbar zu machen. Also bitte, liebe Seltenfahrer, Touristen und vor allem Fahrgäste mit Sehbehinderungen: Coming out! Und zwar rechtzeitig!

Nicht nur das Flächenland mit kleinen und mittleren Städten– auch die Landeshauptstadt ist nicht vor Überraschungen gefeiht. Im Herbst des vergangenen Jahres glaubten Potsdamer Rollstuhlfahrer ihren Ohren nicht mehr zu trauen, als die Busse der Potsdamer Verkehrsbetriebe nur noch einen Rollstuhlfahrer je Stadtlinienbus transportierten. Wie sich schnell zeigte, kein hausgemachtes Problem, sondern Dienst nach Vorschrift. Nach Übernahme einer EU-Richtlinie in die deutsche Straßenverkehrszulassungsordnung im Jahre 2003 schrieb das Gesetz ab 2005 vor, dass Busse im Öffentlichen Personennahverkehr über technische Einrichtungen für die Beförderung von Menschen mit eingeschränkter Mobilität verfügen müssen.

Das klingt gut und auch das Anliegen dieser Richtlinien ist begrüßenswert. Diese Vorschrift sollte unter anderem verhindern, dass europaweit (vor allem in den neuen Mitgliedsländern) in Bussen Stellplätze für Rollstuhlfahrer ausgewiesen werden, die diesen Namen nicht verdienen und viel zu klein sind. In der Praxis hatte das allerdings eine negative Seite: Die tatsächlich vorhandene Stellfläche in Bussen reicht oft zwar aus, um auch zwei Rollstuhlfahrer zu transportieren, zumal wenn diese kleinere Rollstühle benutzten und sich mit Blick auf die Tür und nicht – wie eigentlich in der EU-Richtlinien vorausgesetzt – in Fahrrichtung aufstellen. Eingerichtet sind die meisten Busse aber allenfalls für die Beförderung eines Rollstuhlfahrers, weil die geforderte und gesicherte Stellfläche von 75 cm x 1,30 cm nur einmal vorhanden ist.

Und so kam es, wie es kommen musste: Die Potsdamer Verkehrsbetriebe pochten auf die Vorschrift und ließen fortan nur noch einen Rollstuhlfahrer in ihre Busse. Für die Betroffenen ein unhaltbarer Zustand, dem mit mehr oder weniger effektiven Übergangslösungen – wie etwa einem Rufbus für liegen gebliebene Rollifahrer – begegnet wurde. Es hat mehrere Monate gedauert, bis sich nunmehr eine politische Lösung des Problems abzeichnet. Das Bundesministerium für Verkehr hat im März 2008 im Bundesverkehrsblatt eine Änderung der Straßenverkehrszulassungsordnung für den Sommer angekündigt und bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens über eine „Hilfestellung für die Praxis“ die derzeitige Gesetzeslage entschärft.

Ende gut, alles gut könnte man sagen. Aber es bleiben eine Reihe von Fragen: Warum haben Verkehrsunternehmen in Brandenburg im Herbst 2007 und damit mehr als zwei Jahre nach dem Inkrafttreten der neuen Vorschriften plötzlich und übergangslos ihre Praxis für die Mitnahme von Rollstuhlfahrern geändert? Seit dem Oktober 2003 muss den betroffenen Unternehmen bekannt gewesen sein, dass diese neuen Vorschriften mit einer mehr als einjährigen Übergangsfrist im Februar 2005 in Kraft treten würden.

Warum sind gleichwohl weiterhin Busse angeschafft worden, die nur über einen Rollistellplatz verfügten? Dass es anders geht, haben Verkehrsbetriebe in Berlin und Hannover bewiesen, die bei der Inbetriebnahme neuer Fahrzeuge auf zwei Stellplätzen für Rollstühle bestanden. Warum hat nur eine kleine Zahl von Verkehrsunternehmen so gehandelt und damit rigoros zum Nachteil behinderter Menschen agiert, während die Mehrheit vorhandene Spielräume zugunsten der Betroffenen nutzte? Und schließlich: Warum sind die Potsdamer Verkehrsbetriebe trotz der Weisung des Bundesministeriums für Verkehr im Bundesverkehrsblatt nicht bereit, ab sofort wieder zum alten Standard zurück zu kehren? Festzuhalten bleibt auf jeden Fall: Es ist nicht die EU-Richtlinie gewesen, die die Mitnahme von mehreren Rollstuhlfahrern untersagte. Wenn es spätestens im Sommer eine geänderte STVZO in Deutschland gibt, dann wird sie auf der gleichen EU-Richtlinie basieren, die angeblich zwingend eine Mitnahme weiterer Rollstuhlfahrer verbot.

Ein weiterer Aufreger sorgte im vergangenen Jahr für Unruhe bei Betroffenen und ihren Angehörigen. Die Landkreise und kreisfreien Städte waren mit der am 01.01.2007 in Kraft getretenen Kommunalisierung der Sozialhilfe auch für die Eingliederungshilfe in den Werkstätten für behinderte Menschen zuständig geworden.

Einige Monate später ließen sie den Werkstattträgern über ihre Serviceeinheit mitteilen, dass die Kostensätze gekürzt werden müssten. Ein über den Kostensatz finanziertes Mittagessen für die behinderten Mitarbeiter in der Werkstatt könnte es zukünftig nicht mehr geben. Schließlich erhielten viele von ihnen ja Sozialhilfe und im monatlichen Regelsatz seien auch Kosten für das Mittagessen ausreichend berücksichtigt. Ergo – ein behinderter Mensch, der für wenig Geld einen vollen Arbeitstag in der Werkstatt verbringt, solle zukünftig für seine Verpflegung dort allein aufkommen. Für viele Beschäftigte der WfbM ist die gemeinsame Mahlzeit das einzige warme Essen des Tages. Man muss befürchten, dass einige eben nicht in der Lage sind, gesundheitsbewusst zu denken und selbstständig das Geld tatsächlich für das Essen aufzuwenden. Eine Beobachtung, die bereits jetzt bei den Selbstzahlern festzustellen ist. Auch für die in den Küchen bzw. Essenausgaben der WfbMs beschäftigten Mitarbeiter (ebenfalls behinderte Menschen) wären somit durch die zurück gehende Nachfrage nach Essensportionen die Arbeitsplätze und eine sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeit in Gefahr.

Trotzdem wurden mit ersten Werkstattträgern neue Kostensatzverhandlungen anberaumt, in denen die Neuregelung zum Tragen kommen sollte. Nur Dank eines starken gemeinsamen Protestes der Werkstattträger im Land Brandenburg wurde die geplante Neuregelung aktuell zurückgenommen und kann in der Hand der Werkstattträger verbleiben. Wir haben allerdings Sorge, dass dies nicht das Ende der Diskussion ist. Ausgehend von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 11.12.2007 steht zu befürchten, dass in absehbarer Zeit nicht die Kostensätze der Werkstätten, wohl aber die Grundsicherungsrente der Betroffenen um die Kosten des Mittagessens gekürzt wird. Wir hoffen, dass sich die Träger der Werkstätten dann mit ebensolcher Vehemenz für dieses Thema engagieren werden, wie bei der vorerst abgewendeten Kürzung der Kostensätze für die Werkstätten.

Die Beispiele sind aus Sicht des Allgemeinen Behindertenverbandes symptomatisch für die Behindertenpolitik und die Lebenssituation der Betroffenen in unserem Land.

Es geht in den letzten Jahren immer mehr darum, Eingriffe in Rechte behinderter Menschen abzuwehren, drohende Verschlechterungen und Leistungskürzungen zu verhindern. An mancher Stelle geht uns schleichend verloren, was vor Jahren erkämpft und was wir damit gesichert glaubten.

Im Dezember 2007 beschloss der Landtag des Landes Brandenburg das Kommunalrechtsreformgesetz. Zukünftig ermöglicht § 19 Abs. 1 der Kommunalverfassung die Wahl von Beiräten oder Beauftragten für gesellschaftlich bedeutsame Gruppen. Bei dieser Formulierung bleibt es den Vertretungskörperschaften in ihrer örtlichen Hauptsatzung frei zu entscheiden, ob sie einen Beirat oder einen Beauftragten berufen möchten. Klingt erstmal gut, solange, bis man sich den Tenor des Gesetzgebers aus der Begründung ansieht. Da ist dieser nämlich zu der Überzeugung gelangt, dass ein ehrenamtlicher Beirat allemal die gleiche Aufgabenwahrnehmung gewährleisten kann, wie hauptamtlich tätige Beauftragte.

Und dem muss widersprochen werden! Dieser Passus birgt die Gefahr des Wegbruchs bestehender Netzwerke bzw. Beiräte, denn die Praxis zeigt, dass nur bei hauptamtlicher Koordinierung in den ehrenamtlichen Betroffenenbeiräten eine zweckentsprechende Beiratsarbeit erfolgen kann. Außerdem: Aktuelle und zu begrüßende Initiativen zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements und des Ehrenamtes (und als solches wurde es „verkauft“) sollten nicht dazu missbraucht werden, die durch den Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik in den letzten Jahren spürbaren Erfolge in der Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen zu konterkarieren. Es widerspricht außerdem der Intention von § 12 Abs. 4 Brandenburgisches Behindertengleichstellungsgesetz (BbgBGG), denn der schreibt die Mitwirkung kommunaler Behindertenbeauftragter bei der Gestaltung gleichwertiger Lebensbedingungen in den Kommunen vor. Wie aber, wenn es keinen kommunalen Beauftragten mehr gibt? Eine wirkungsvolle Interessenvertretung für Menschen mit Behinderungen erfolgt erfahrungsgemäß nicht per se im Einklang mit den örtlichen gemeindlichen Vertretungsgremien. Das Gleichbehandlungsgebot oder verbindliche Regelungen zur Barrierefreiheit müssen sowohl innerhalb der Verwaltung als auch gegenüber den Gemeindevertretungen durchgesetzt werden können - im Ehrenamt fast unmöglich, kann es doch zur Konfrontation gegenüber der Gemeindevertretung kommen. Und im Umkehrschluss kann man als Betroffener nur einen hauptamtlich Beschäftigten auch für Versäumnisse zur Verantwortung ziehen!

Fazit: Die Durchsetzung von Gleichberechtigung und Gleichbehandlung auf der kommunalen Ebene wird durch die Neuregelungen im KommRRefG nicht gefördert, sondern deutlich erschwert. Die Proteste der Betroffenen wurden leider nur in Teilen gehört und letztendlich wurde das Gesetz mit den Neuregelungen beschlossen.

Vor einigen Jahren haben wir bei den Veranstaltungen zum 5. Mai noch gefordert, die Bestellung von hauptamtlichen Behindertenbeauftragten in Kommunen ab einer bestimmten Einwohnerzahl zum Gesetz zu erheben. Jetzt müssen wir darum bangen, dass der bestehenden Struktur von Behindertenbeauftragten durch die neue Kommunalverfassung der Boden entzogen wird.

Ein weiteres Beispiel: Grundsätzlich wird im Land Brandenburg die Auffassung vertreten, dass nach § 3 Abs. 4 Brandenburgisches Schulgesetz (BbgSchulG) Kinder mit Behinderungen vorrangig im gemeinsamen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gefördert werden sollen. Bereits im Kindergarten setzt diese Integration ein und es gibt die Möglichkeit, wegen einem sonderpädagogischen Förderbedarf zusätzliches Personal in einer „Regel- oder Integrationskita“ finanziert zu bekommen. Die Eltern haben damit relativ wenig Komplikationen, da der Kitaträger die erforderlichen Schritte einleitet. Wechselt das betreffende Kind in die Grundschule, kann gemäß BbgSchulG vor allem die dann nötige Unterstützung durch Förderschullehrkräfte und sonstiges Schulpersonal finanziert werden. Darüber hinaus ist Personal zur Hilfegewährung für pflegerische Tätigkeiten (z.B. Toilettengang, Hefte auspacken) mit einzubeziehen.

Soweit so gut. Der Kitabesuch und auch der Schulbesuch ist finanziell also geklärt. Aber was passiert ab dem Mittagessen, wenn die Klassenkameraden in den Hort wechseln?

Dann steht das behinderte Kind und vor allem auch seine Eltern allein da. Denn nun werden die Eltern in jedem Einzelfall an den örtlichen Sozialhilfeträger verwiesen, um prüfen zu lassen, ob durch das Sozialamt der Kommune (einkommensabhängige!) Eingliederungshilfe im Rahmen des SGB XII zu gewähren ist. Dabei prüft der Sozialhilfeträger zunächst die Notwendigkeit der Hilfegewährung – einen Bedarf, der für das gleiche Kind für den Vormittag in der Schule schon längst geprüft und anerkannt ist! Und dabei legen die Sozialhilfeträger das SGB XII leider nicht zielführend und im Sinne der Antragsteller aus. Der Hortbesuch wird (entgegen dem gesunden Menschenverstand) nicht als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII gesehen, was dazu führt, dass die Gewährung der Leistung abgelehnt wird. Dazu muss man wissen: Nach SGB XII sind Hilfen zu einer allgemeinen Schulbildung zugunsten behinderter Kinder erforderlich und geeignet, wenn sie den Behinderten den Schulbesuch ermöglichen oder erleichtern. Sie werden mir zustimmen, dass der Besuch eines Schulhortes für Grundschüler ohne Zweifel zu den sinnvollen Instrumenten gehört, die den Erfolg des Schulbesuches vom Vormittag entsprechend ergänzen und manifestieren. Dies ist bei integrativ beschulten Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in besonderer Weise der Fall. Der Hortbesuch trägt hier nicht nur zur Festigung der Lernergebnisse (und somit Unterstützung des Schulbesuches bei), er ist auch als wirksame Maßnahme der Integration der behinderten Kinder in die Gesellschaft anerkannt.

Dennoch: Dem Verband liegen Einzelfälle vor, wo örtliche Sozialhilfeträger die Ablehnung des Antrages auf Übernahme der zusätzlichen Kosten eines Helfers im Hort damit begründen, „dass Sozialhilfe nicht erhält, wer sich durch den Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann“. Daran ist zunächst nicht zu rütteln, denn so steht es ja auch im SGB XII. Wenn dies in der Praxis aber bedeutet, dass arbeitslosen Eltern, die Arbeitslosengeld II beziehen, empfohlen wird, durch Einsatz der eigenen Arbeitskraft doch selbst die notwendige Betreuungsleistung für den Besuch des Schulhortes aufzubringen, dann wird der Wille des Gesetzgebers massiv unterlaufen. Von versicherungsrechtlichen Problemen mal ganz abgesehen. Insbesondere verfolgen die Vorschriften zur Kostenübernahme im SGB XII auch den Sinn, die Eltern behinderter mit denen nicht behinderter Kinder wirtschaftlich gleichzustellen, vor allem dann, wenn die Eltern aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage zur Zahlung eines zusätzlichen Kostenbeitrages nicht in der Lage sind. Es ist dem behinderten Kind auch nicht zuzumuten, wegen der derzeitigen Erwerbslosigkeit der Eltern auf den (wie oben dargestellt) wichtigen Hortbesuch verzichten zu müssen, aber leider verweigern Hortträger die Aufnahme dieser Kinder, wenn nicht durch die Eltern die Finanzierung der zusätzlichen Kraft geklärt werden kann. Das MASGF sieht wieder unter Verweis auf die kommunale Selbstverwaltung für sich leider auch hier keine Möglichkeit, auf die Ausgestaltung der Eingliederungshilfe in den Kommunen einzuwirken. Und leider gibt es auch noch immer keine Finanzierungsregelung zwischen den beteiligten Ministerien für Bildung und dem für Soziales, wer das für den entwicklungspsychologisch unbestritten sinnvollen und gesellschaftlich wünschenswerten Hortbesuch wegen der Behinderung notwendige zusätzliche Personal bezahlen soll. Für die Horte an Förderschulen gilt das übrigens nicht!!! Diese werden auch in ihrem Mehrbedarf finanziert. Wann endlich Leben wir Integration und stellen Kinder und ihre Familien an integrativen Horten gleich?

Zusatz: Zum Schuljahresbeginn 2006/07 im Land Brandenburg: 3130 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht in den Klassen 1-6 (= Grundschule), davon 364 Erstklässler

Für uns als Verband bleibt in Richtung Landespolitik folgende Erkenntnis: Nicht nur mit der Kommunalisierung der Sozialhilfe hat das Land ohne Not das wichtige behindertenpolitische Aktionsfeld der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen völlig aufgegeben. Das Land kann in diesen Bereichen nichts mehr bewirken. Wie kann es dann aber noch seiner in der Verfassung festgelegten Aufgabe gerecht werden, wenn es immer mehr Bereiche abgibt, in denen man sich hinter - von der Landespolitik selbst geschaffenen - kommunalen Zuständigkeiten versteckt. Die Behindertenpolitik muss wieder Landespolitik sein und als politisches Aktionsfeld wieder durch sie gestaltet werden - hier sind die Landesregierung ebenso wie die Parteien gefordert.

In den noch originären Bereichen der Landeszuständigkeit, wie bspw. dem Baurecht und der Kommunalverfassung kämpfen wir gegen eine schleichende Erosion bestehender Standards.

Wenn zum Beispiel gesetzlich eingeführte und definierte Begrifflichkeiten bewusst aufgeweicht werden oder völlig neue Begriffe quasi „erfunden“ werden, um niedrigere Standards „salonfähig“ oder besser genehmigungsfähig zu machen, dann scheint das für sich genommen zunächst nicht dramatisch, ja vielleicht sogar innovativ, in der Tendenz ist es politisch unvertretbar.

Die Neuerfindung und Einführung des Begriffes der „Barrierearmut“ ist das beste Beispiel. Das Land fördert unter dem Titel „Herrichtung des barrierefreien Zugangs zu Mietwohnungen“ den nachträglichen Einbau von Aufzügen. Der Begriff barrierefrei ist laut Brandenburgischer Bauordnung § 45 eindeutig an die als technische Baunorm eingeführten DIN 18024 / 18025 gebunden. Die Investitionsbank des Landes Brandenburg ihrerseits interpretiert die „Barrierefreiheit“ nach dieser sog. Aufzugsrichtlinie jedoch völlig frei und neu, in dem sie in

    Vollständig barrierefrei (DIN 18025)

    Weitgehend barrierefrei

    und

    barrierearm

unterscheidet und diese 3 Kategorien auch tatsächlich als förderfähig betrachtet. Die Deklaration eines Objektes als barrierearm bedeutet hier, dass ein Aufzug auf einem Zwischenpodesthaltepunkt zwischen 2 Treppenabsätzen halten darf und damit nach Auffassung der ILB noch immer der Intention des Gesetzgebers nach Schaffung eines „Barrierefreien Zugangs“ entsprochen sei. So etwas macht uns einerseits fast sprachlos – lässt uns andererseits aber laut aufschreien und sogar sarkastisch werden.

Wir wollen heute Anstöße geben - ohne anstößig zu sein.

Barrierearm statt Barrierefrei ist so wie „ein bisschen tot“ statt ganz tot.

Aber: Tot ist tot und ein barrierearmes Objekt bleibt ein Objekt mit Barrieren.

Darüber sollten wir alle nachdenken und heute auch diskutieren.


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